Depression in der DDR
Am 5. Oktober 2025, zum 22. Tag der Depression, habe ich mich gefragt, was eigentlich davor war. Was war vor diesen 22 Jahren, bevor dieses Thema sichtbar wurde, bevor man öffentlich darüber sprach, bevor man begann, es wirklich zu verstehen?
Je länger ich darüber nachdachte, desto tiefer tauchte ich in meine eigene Geschichte ein. Ich habe mich mit der Sache beschäftigt und bin ihr bewusst auf den Grund gegangen – zurück in meine Kindheit, in die Zeit als Jugendliche, damals in der DDR.
Ich wollte herausfinden, wie damals mit diesem Krankheitsbild umgegangen wurde – oder ob überhaupt damit umgegangen wurde.
Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand das Wort Depression jemals im Alltag benutzt hätte. Es war kein Thema, über das man sprach. Aber der Begriff existierte schon: In der medizinischen Fachsprache war „Depression“ bekannt, in den Kliniken und bei Psychiatern sprach man oft vom „depressiven Syndrom“. Das diente dazu, depressive Symptome zu beschreiben, ohne dass es immer eine spezifische Diagnose gab.
Die DDR orientierte sich offiziell an der ICD-9, der internationalen Klassifikation der Krankheiten von der WHO, die 1975 veröffentlicht wurde. Theorie und Praxis klafften jedoch auseinander: Zwar existierten Codes für depressive Störungen im ICD-9-System (zum Beispiel im Bereich 296 für affektive Psychosen), in der tatsächlichen ärztlichen Praxis wurden diese Codes jedoch selten oder sehr unsystematisch verwendet.
Häufig wurden Symptome wie: Erschöpfung, Nervenschwäche oder Überarbeitung unter den allgemeinen Codes wie: 311 („Depressive disorder, not elsewhere classified“) erfasst, ohne dass der Begriff „Depression“ im Alltag oder in den Akten häufig auftauchte.
Vielleicht gab es irgendwo in den medizinischen Akten einen Eintrag, aber im Alltag existierte diese Krankheit nicht. Man sprach von „Nervenschwäche“, von „Erschöpfung“ und manchmal von „Überarbeitung“ oder einfach davon, dass jemand „nicht so belastbar“ sei. Aber nie von dem, was es wirklich war – diese innere Leere, das Sich-Zurückziehen oder das Nicht-Mehr-Können.
Ich erinnere mich an Stimmungen in Familien, an einige Freundinnen, deren Mütter oft „krankgeschrieben“ waren, an dieses diffuse Gefühl von Schwere, das niemand benennen konnte. An Gespräche, in denen über vieles geredet wurde, nur nicht über das, was wirklich weh tat.
Wir lebten in einer Welt, in der man funktionieren musste. Arbeit, Pflicht und Durchhalten waren wichtiger als das eigene Fühlen. Wer traurig war, sollte sich zusammenreißen. Wer schwieg, galt als verschlossen und wer schwach wurde, als unsicher. Und so wurde vieles überdeckt, verdrängt und weggeschoben.
Heute denke ich: Depression war damals nicht seltener – sie war nur unsichtbarer. Viele Menschen haben gelitten, ohne es zu wissen, ohne Worte dafür zu haben. Nicht, weil sie schwach waren, sondern weil niemand ihnen beigebracht hatte, dass Schmerz eine Sprache hat, die man hören darf!!!
Vielleicht hat diese Stille mich gelehrt, genauer hinzusehen – auf das, was zwischen den Worten liegt, auf die leisen Zeichen von Erschöpfung und Verzweiflung, die andere übersehen. Vielleicht ist es genau diese Aufmerksamkeit, dieses stille Wahrnehmen, das den ersten Schritt zu Verständnis und Heilung markiert.
Und vielleicht fängt Heilung nicht erst an, wenn Worte gefunden werden, sondern im Mut, die Leere zu spüren und sie zuzulassen.
Und nur wenn Gesellschaft es zulässt, dass diese Krankheit existieren darf, kann ein Mensch auch bereit sein, Hilfe anzunehmen und sich zu öffnen.
Es gibt genug Menschen, die zu Hause sitzen und sich nicht trauen, über ihre Krankheit zu sprechen. Dadurch keine Hilfe erfahren, still leiden und kein gutes Leben haben.
Mit meinen Beiträgen und Büchern möchte ich dazu beitragen, dass diese Menschen nach draußen gehen, sich zeigen und den Mut finden, sich Hilfe zu holen. Denn diese Krankheit ist ein Teil von ihnen – sie macht sie nicht schlechter, sondern in gewisser Weise sogar besonders.
Denn, wer jeden Tag lebt, trotz des Leidens, beweist Mut und Kraft. Und für Menschen mit diesem Krankheitsbild ist schon jeder einzelne Tag, den sie bewältigen, ein Sieg!
Chapeau an alle stillen Sieger 😀.
