Was wir von Victor Frankl über den Sinn des Lebens lernen können…
Viktor Frankl stand am Rednerpult und blickte in den feierlich erleuchteten Saal. Unten war es warm, hell, und die Zuhörer in der großen Festhalle hingen ehrfürchtig an seinen Lippen, als er vom Rednerpult herunter zu ihnen sprach. Das Thema seines Vortrags lautete: Psychotherapeutische Erfahrungen im Konzentrationslager. Diese Szene sollte jedoch erst Jahrzehnte später Wirklichkeit werden. In seiner Vorstellung durchlebt
, hatte Frankl sie in auswegloser Zeit, direkt in der Hölle: Im Konzentrationslager, in trost- und hoffnungsloser Situation, stellte Frankl sich diesen beachteten und ruhmvollen Lebensmoment auf der Bühne rein in seiner Fantasie vor.
Er gab seinem realen Leiden Sinn, flüchtete imaginär vor Kälte, Hunger, Angst und Verzweiflung, indem er sich vorstellte, wie er den Umgang mit extremem Leid für sein Fach später deuten würde.
Im Vorgriff auf die Zukunft rettete er sich vor dem Schrecken der Gegenwart im Lager. Und fand einen Trick, um innerlich weitgehend unbeschadet das Konzentrationslager zu überleben.
Ein Warum trägt durch Krisen
Was hatte er getan?
Frankl hatte den Erfahrungen von Leid und Vernichtung im Lager, an denen andere zerbrachen, ein Warum gegeben, einen Sinn und eine Deutung für sein Leben.
Wenn er lebend hier herauskam, wollte er sein Fach durch seine eigenen Erfahrungen weiterbringen. Später sollte von ihm der Satz überliefert werden:
“Wer ein Warum zu leben hat, der erträgt fast jedes Wie.”
Sein Leid sollte nicht sinnlos sein, sondern andere weiterbringen, mit eigenen Schicksalsschlägen und Krisen umzugehen.
Viktor Frankl wurde zum Begründer der Logotherapie (logos, griechisch für “Sinn”), jener Psychotherapieschule, die auf den Sinn im Leben zentriert ist. Sie vertritt die These, dass selbst ein namenloser Schrecken wie jener der Lager, in die Seele integriert werden kann, wenn er verstehbar wird, sich zu einer Sinnfigur und erzählbaren Geschichte rundet, statt nur als Trauma über den jeweiligen Menschen hereinzubrechen.
Viktor Frankl verlor alles: seine Eltern, seinen Bruder und seine geliebte Frau. Das Leben hatte ihm alles entrissen. Und doch lebte er, was er lehrte.
Nachdem er 1945 befreit worden war, versuchte er, in Wien etwas vom Schicksal seiner Eltern und seiner Frau Tilly zu erfahren, die in verschiedene Lager gebracht worden waren. Innerhalb weniger Tage erreichten ihn die furchtbaren Nachrichten der Verluste. Doch Frankl hegte keinen Wunsch nach Rache und Vergeltung. Schon bald nach der traumatischen historischen Erfahrung war der junge Arzt, so wird berichtet, nahezu der Gleiche wie vorher. Trotz widrigster Umstände verlor er nicht seinen Lebensmut. Ein Freund und Wegbegleiter, der Schriftsteller Hans Weigel, schrieb: “Er vertauschte das Lager-Gewand mit dem weißen Mantel des Arztes und half seinen Landsleuten als ärztlicher Seelsorger.” Nach seinen Erfahrungen der Auslöschung sagte Frankl: “Die Welt ist nicht heil, aber heilbar.”
Sinn entsteht, wenn das Selbst transzendiert wird
Frankls Buch “trotzdem Ja zum Leben sagen” erschien 1946 als Bericht eines Psychologen aus dem Konzentrationslager und stellt die Sinnfrage ins Zentrum. Es wurde über neun Millionen Mal gedruckt, auf der ganzen Welt gelesen und beeinflusste das Fach.
Woraus aber können Menschen heute mehr Sinn in ihrem Leben schöpfen? Lassen sich die Erfahrungen des Wiener Ausnahme-Psychiaters und Arztes auch für die Gegenwart übersetzen?
Ganz sicher: Von Frankl können wir lernen, dass sich jeder noch so verfahrenen Situation, ein neuer Deutungsrahmen geben lässt, um besser mit ihr umzugehen und Gestaltungskräfte für die Zukunft zu mobilisieren. Für ihn gibt es nicht den einen Sinn, aber auch in ausweglosen Situationen liegt eine Sinnmöglichkeit, die es zu heben gilt, um gesund zu werden.
Quelle: GEO+ | Lebenskunst Autor: Stefanie Maeck